ESG-Aspekte rücken in der Medizintechnikbranche immer stärker in den Fokus. Zwar passen sich viele Unternehmen regulatorischen Vorgaben an, doch der Druck von Kunden, Investoren und dem Markt selbst wächst. Sie fordern mehr Transparenz, klare Verantwortung und nachhaltigen Mehrwert.
Um die Mechanismen dieser Entwicklung besser zu verstehen, haben wir mit Adrian Wain gesprochen. Im Interview spricht der Business Manager für ESG Advisory and Assurance bei UL Solutions über die zentralen Faktoren, die ESG in der Gesundheits- und Life-Sciences-Branche prägen, über Chancen für Unternehmen und konkrete Schritte, mit denen sich durch mehr Transparenz, Dekarbonisierung und soziale Innovationen neuer Wert schaffen lässt.
F: Welche Faktoren zwingen Unternehmen in der Gesundheits- und Life-Sciences-Branche zu umfassenderen ESG-Strategien?
A: Für viele Unternehmen hat sich die ESG-Berichterstattung von einem Pflichtprogramm zu einer strategischen Aufgabe gewandelt. Es geht nicht mehr nur um Risikominderung, sondern um Chancennutzung.
Da wären zunächst zwei entscheidende Faktoren. Der erste ist der Zugang zur Gesundheitsversorgung. Wer Bezahlbarkeit und Zugänglichkeit ernst nimmt, erschließt neue Märkte, auch unterversorgte Regionen. Pharmaunternehmen haben das vorgemacht und Medikamente bezahlbarer gemacht. Mittlerweile weitet sich dieser Trend auch auf Medizinprodukte und Gesundheitsdienstleistungen aus. Wenn die Kosten für eine MRT-Untersuchung gesenkt werden, profitieren beide Seiten: Mehr Patienten erhalten Zugang, und das Unternehmen erschließt neue Marktsegmente.
Der zweite entscheidende Faktor ist Abfallreduzierung und Kreislaufwirtschaft. Damit lassen sich Geschäftsmodelle in vielen Bereichen verbessern. Medizintechnikunternehmen könnten Einwegprodukte so gestalten, dass sie wiederverwendbar oder recycelbar sind, und größere Geräte so entwickeln, dass sie generalüberholt und länger genutzt werden können. Je länger ein MRT-Gerät genutzt werden kann, desto geringer sind die Investitionskosten und damit auch die Gesamtkosten für die medizinische Dienstleistung. Geringere Kosten bedeuten niedrigere Preise für Patienten und mehr Zugang. Genau das stärkt die soziale Komponente von ESG.
Auf der Risikoseite ist klar: Das Gesundheitswesen trägt erheblich zum Klimawandel bei. Die Herstellung von Medizinprodukten verursacht einen erheblichen Anteil der Emissionen in dieser Branche, Dekarbonisierung steht also ganz oben auf der Risikoagenda. Ein weiteres Problem sind die langfristigen Umweltschäden durch entsorgte Geräte. Unternehmen, die diese Risiken ernst nehmen und als Innovationschancen nutzen, gewinnen an Wettbewerbsfähigkeit.
F: Wie werden sich die ESG-Anforderungen in den nächsten fünf Jahren entwickeln?
A: Regulierungen sind inzwischen nicht mehr der Haupttreiber. In einigen Bereichen hat sich das Tempo verlangsamt, etwa bei den ESG-Vorschriften in den USA oder bei der EU-Richtlinie zur Nachhaltigkeitsberichterstattung. Jetzt spürt man vor allem den Druck vom Markt selbst und von anderen Ländern, die weiter an strengeren Vorgaben arbeiten.
Im Gesundheitssystem des Vereinigten Königreichs, dem National Health Service (NHS), hat man klare Ziele für Netto-Null und Nachhaltigkeit gesetzt. In den USA legen die größten Gesundheitsdienstleister auch weiterhin großen Wert auf ESG-Kriterien bei der Auswahl und Zusammenarbeit mit Lieferanten. Kurz gesagt: Auch wenn die Regulierung hinterherhinkt, treibt die Marktnachfrage ESG konsequent voran. Für die Zukunft lassen sich drei wesentliche Faktoren identifizieren, die die ESG-Erwartungen beeinflussen:
- Regionale Unterschiede – Während in den USA und der EU das Tempo etwas nachlässt, verschärft die Asien-Pazifik-Region ihre ESG-Regulierung.
- Wettbewerb um Ressourcen – Der globale Druck zur Elektrifizierung führt zu einem regelrechten Wettkampf um Rohstoffe. Das macht Kreislaufwirtschaft und Materialrückgewinnung noch wichtiger.
- Mehr Transparenz – Die Grundlagen für einheitliche Berichtsstandards und Datenmodelle sind vorhanden, sodass künftig mit deutlich konsistenteren ESG-Offenlegungen in der Gesundheits- und Life-Sciences-Branche zu rechnen ist.
- Marktnachfrage – Unternehmen, die die ESG-Berichterstattung fest in ihre täglichen Abläufe integriert haben, profitieren finanziell davon. Gleichzeitig nimmt der Druck vonseiten der Verbraucher und Investoren weiter zu.
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F: Wie lässt sich für Unternehmen am Anfang ihrer ESG-Reise der Einstieg in die Dekarbonisierung der Lieferkette gestalten und wie können Scope-3-Emissionen angegangen werden?
A: Die meisten mittelständischen Unternehmen stehen noch am Anfang ihrer ESG-Reise, vor allem im Vergleich zu großen multinationalen Konzernen. Der regulatorische Druck war bislang geringer, und auch die Ressourcen für die ESG-Berichterstattung sind oft begrenzter. Das verändert sich gerade schnell, denn der Druck von Stakeholdern wächst.
Zunächst ist es wichtig, sich einen klaren Überblick zu verschaffen. Unternehmen können eine solche Ausgangsbasis schaffen, indem sie ihre Scope-3-Emissionen erfassen. So können sie die Hauptverursacher identifizieren und Folgendes genauer unter die Lupe nehmen:
- Lieferantenanforderungen – Erwartungen zur Emissionsminderung in Lieferantenrichtlinien und Verträge aufnehmen und mit wissenschaftlich fundierten Zielen abstimmen.
- Lieferkettenoptimierung – Prüfen, ob Produktions- oder Lieferantenverlagerungen in Regionen mit saubererem Strom, anderer Logistik oder Produktion Emissionen deutlich senken können.
- Anpassungen im Produktdesign – Einsatz von recycelten Materialien in Komponenten ohne Patientenkontakt, Entwicklung von Geräten, die sich leicht zerlegen lassen, sowie Implementierung von Remanufacturing-Programmen zur Wiederverwertung wertvoller Komponenten.
Unternehmen können diese Maßnahmen entweder Schritt für Schritt umsetzen oder gleichzeitig angehen, um schneller Ergebnisse zu erzielen.
F: Was sind die größten operativen bzw. unternehmensbezogenen Hürden bei der ESG-Berichterstattung in der Gesundheits- und Life-Sciences-Branche?
A: Es gibt vier zentrale Herausforderungen:
- Ausrichtung auf das Unternehmen – ESG darf kein isoliertes Randthema sein, sondern muss in der Kernstrategie des Unternehmens verankert werden. Wird die Berichterstattung als geschäftskritisch betrachtet und vom CFO oder CEO verantwortet, läuft der Prozess deutlich effizienter.
- Uneinheitliche Berichtstandards – Bis vor Kurzem waren ESG-Berichtsstandards uneinheitlich. Mittlerweile sind Standards wie die Global Reporting Initiative (GRI) und die International Financial Reporting Standards (IFRS) besser aufeinander abgestimmt.
- Komplexe Datenerfassung – ESG betrifft Einkauf, Betrieb, Produktdesign, Personalwesen und Vertrieb. Mithilfe moderner Datenplattformen können Unternehmen ihre Berichterstattung zentralisieren und effizienter gestalten und so eine konsistente, unternehmensweite Datenerfassung sicherstellen.
- Mehrwert belegen – Anfangs stellten Führungskräfte den finanziellen Nutzen von ESG-Initiativen infrage. Inzwischen gibt es belastbare Daten die zeigen, dass Unternehmen mit guter ESG-Governance wirtschaftlich besser abschneiden.
F: Inwiefern beeinflusst ESG die Risikoanalyse und -steuerung in der Lieferkette?
A: Ob eine Lieferantenfabrik in einem Hochwassergebiet oder einer Region mit großem Klimarisiko liegt, ist mindestens genauso wichtig wie Angaben zu Preis und Qualität. Mithilfe von ESG-Daten können Unternehmen ihre Lieferketten robuster gestalten und Ausfallrisiken minimieren.
F: Wie lässt sich künstliche Intelligenz (KI) für ESG-Strategien in der Medizintechnikbranche einsetzen?
A: KI kann den ESG-Prozess auf mehreren Ebenen voranbringen:
- Datentransparenz – Die automatisierte Erfassung und Analyse von Nachhaltigkeitsdaten der Lieferanten kann den Aufwand für manuelle Anfragen und deren Verarbeitung reduzieren. Ein Unternehmen aus der Gesundheits- und Life-Sciences-Branche könnte KI einsetzen, um Lieferantendaten im Blick zu behalten und Lieferanten zu kennzeichnen, die durch widersprüchliche oder fehlende Angaben ein Risiko für das Geschäft darstellen.
- Vorausschauende Bedarfsplanung – KI-Modelle können den Bedarf an Medizinprodukten wie Insulinpumpen oder Diagnostik-Sets auf Basis epidemiologischer Trends und Nutzungsdaten aus Krankenhäusern vorhersagen. Diese Prognosen helfen, Überproduktion zu vermeiden, Abfall zu reduzieren und die Umweltbelastung durch Produktion und Logistik zu minimieren.
- Prädiktive Instandhaltung – Mithilfe von KI lassen sich MRT-Geräte oder OP-Roboter überwachen und auf Basis von Nutzungs- und Leistungsdaten vorhersagen, wann Komponenten ausgetauscht werden müssen. Dadurch lässt sich die Nutzungsdauer von kostenintensiven Geräten verlängern und die Menge an Elektronikabfall verringern, was wiederum den Grundsätzen der Kreislaufwirtschaft entspricht.
Auch wenn die Gesundheits- und Life-Sciences-Branche bei KI-gestützter Nachhaltigkeit noch in den Anfängen steckt, zeigen die genannten Beispiele, wie KI zur Steigerung der Ressourceneffizienz, zur Vereinfachung von Berichterstattungen und zur Unterstützung verantwortungsbewusster Innovation beitragen kann.
F: Wird der gleichberechtigte Zugang zur Gesundheitsversorgung aus Ihrer Sicht zunehmend zu einem zentralen ESG-Thema?
A: Absolut. Der Zugang zur Gesundheitsversorgung ist ein klarer sozialer Aspekt von ESG. Unternehmen aus der Gesundheits- und Life-Sciences-Branche sehen inzwischen, dass bezahlbare Angebote entscheidend für Marktwachstum und Wirkung sind. Unternehmen können den Zugang zur Gesundheitsversorgung verbessern und ihre wirtschaftlichen sowie ESG-Ziele besser miteinander in Einklang bringen, indem sie die Nutzungskosten eines Produkts durch intelligentes Design, neue Geschäftsmodelle oder Wiederaufbereitung senken.
F: Welches Umdenken ist aus Ihrer Sicht heute am wichtigsten für Führungskräfte in der Gesundheits- und Life-Sciences-Branche?
A: ESG-Erwartungen in diesen Branchen werden ebenso stark von Kunden und Marktdynamiken wie von regulatorischen Vorgaben geprägt. Unternehmen, die frühzeitig in Datentransparenz, eine nachhaltige Lieferkette und sozial wirkungsvolle Innovationen investieren, können den Anforderungen von Stakeholdern leichter gerecht werden und neue Märkte erschließen.
Nutzen Sie ESG-Berichterstattung, um Geschäftsmöglichkeiten zu identifizieren, strategische Risiken zu steuern und die Unternehmensresilienz zu stärken. Unternehmen mit integrierter ESG-Strategie bleiben in einem nachhaltigkeitsorientierten Markt wettbewerbsfähig.
UL Solutions unterstützt die gesamte Medizinproduktebranche mit einem breit gefächerten Angebot an Services und Lösungen. Dazu gehören Zertifizierungen, Tätigkeiten als Benannte Stelle sowie Beratungsleistungen. Zur Erkennung, Vermeidung und Handhabung potenzieller Interessenkonflikte und zum Schutz unserer Marke und der Marken unserer Kunden haben wir Verfahren eingeführt, mit denen wir die Unparteilichkeit sicherstellen. UL Solutions erbringt keine Beratungsleistungen zu EU MDD, MDR oder IVDD Benannte Stelle, UKCA MD Approved Body sowie MDSAP.
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